Rudolf Seiters in der Rheinpfalz: „Viele Helfer sind an der Grenze der Belastbarkeit“
DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters hat der Rheinpfalz in Ludwigshafen am 4. November 2015 folgendes Interview gegeben:
Frage: Herr Seiters, in den Notunterkünften sind DRK-Helfer sehr präsent. Wie groß ist die Herausforderung für Ihre Organisation?
Dr. Seiters: Das DRK betreut derzeit 380 Notunterkünfte mit 120.000 Flüchtlingen. Das können wir aber nur leisten, weil 15.000 überwiegend ehrenamtliche Helfer rund um die Uhr im Einsatz sind. Was das Material angeht: Seit Anfang September stellen wir mit Unterstützung der Bundesregierung und durch Spenden mehr als 65.000 Feldbetten, 10.000 Etagenbetten, 92.000 Schlafsäcke, 440.000 Einwegbettwäsche und 63.000 Quadratmeter Zeltfläche zur Verfügung. Ich bin froh, dass wir in diesem Umfang helfen können, aber viele unsere Helfer geraten an die Grenze ihrer Belastbarkeit.
Frage: Was heißt das konkret?
Dr. Seiters: Das betrifft den Dauer des Einsatzes, aber auch der Umstand, dass die Flüchtlinge an den Grenzen noch nicht gesteuert und kontrolliert zu uns kommen. Unsere Helfer werden zum Beispiel in Bayern nachts um zwei Uhr aus dem Bett geklingelt, weil plötzlich ein weiterer Zugang von Hunderten von Flüchtlingen angekündigt wird. Bessere Koordinierung, bessere Steuerung, das ist es, was unsere Helfer brauchen.
Frage: Wie lange kann die Hilfe auf diesem Niveau geleistet werden?
Dr. Seiters: Unbegrenzt geht das natürlich nicht. Das hängt vor allem davon ab, wielange und in welcher Größenordnung auch in den nächsten Wochen und Monaten Flüchtlinge zu uns kommen werden. Deshalb sind wir dankbar für jeden Appell, den die Politik an die Arbeitgeber richtet, damit sie großzügig und mit Kulanz herangehen, was die Freistellung von freiwilligen Helfern angeht. Mit der Kanzlerin, dem Vizekanzler und dem Innenminister haben wir dieses Problem besprochen und auf Freiwillige Feuerwehr und Technisches Hilfswerkhingewiesen. Dort haben die Helfer einen Anspruch auf generelle Freistellung und auf Lohnfortzahlung. So weit wollen wir nicht gehen, da bei unseren Einsätzen bisher – etwa bei einer Flut – die meiste Arbeit nach zehn oder 14 Tagen getan ist. Aber bei der aktuellen Flüchtlingskrise geht es um Monate. Da sind wir für Erleichterungen für unsere Ehrenamtlichen sehr dankbar. Oder anders gesagt: Bei solchen nationalen Großeinsätzen ist die großzügige Freistellung und die Gleichstellung mit der Feuerwehr unumgänglich.
Frage: Spüren Sie ein verändertes Spendenverhalten der Bürger? Bekommen Sie mehr Zuwendungen oder eher weniger?
Dr. Seiters: Bei großen Naturkatastrophen wie etwa bei einem Tsunami oder Erdbeben ist der Spendeneingang im DRK-Bundesverband sehr groß. Bei Kriegen und Bürgerkriegen sind die Deutschen zurückhaltend. Sie fragen sich dann: Was hilft das? Es werde ja doch alles zerbombt. Bei einer Situation wie jetzt spüren wir eine große Hilfsbereitschaft, vor allem vor Ort. Das betrifft besonders Kleider-, Schuh- oder Spielzeugspenden. Auch werden Betten und Matratzen gespendet. Das erhalten Orts- und Kreisverbände des DRK oder die Notunterkünfte direkt. Viele Menschen wollen außerdem vor Ort selbst als Helfer tätig werden. Die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor groß.
Frage: Sie sind als Bundesminister stets für die solidarische Wertegemeinschaft in Europa eingetreten. Von dieser kann heute nicht die Rede sein. Was ist zu tun?
Dr. Seiters: Es ist leider beschämend, dass es noch keine gemeinsame europäische Antwort in der Flüchtlingspolitik gibt. Was ist notwendig? Wir brauchen mehr Hilfen für die Flüchtlingslager rund um Syrien, da gibt es erste Schritte. Wir brauchen massiv finanzielle und organisatorische Hilfe für die Staaten an der europäischen Außengrenze, wir brauchen einen Einstieg in ein faires Verteilsystem der Flüchtlinge und eine europäische Einigung über sichere Herkunftsländer.
Frage: Bis jetzt gibt es da kaum Bewegung…
Dr. Seiters: Tja. 1992, als die EU aus zwölf Staaten bestand, hatten wir die Situation, dass 440.000 Flüchtlinge aus dem Balkan nach Deutschland kamen und 20.000 nach England. Auf einer Genfer Konferenz der EU habe ich damals als Bundesminister für ein faires Quotensystem geworben. Das Abstimmungsergebnis war 11 zu 1. Also schon damals war die Solidarität nicht sehr ausgeprägt. Und sie gibt es heute immer noch nicht.
Frage: Sie haben sehr früh, bereits 2012 und insbesondere vor einem Jahr, auf das Flüchtlingsdrama in Syrien und seine möglichen Folgen hingewiesen. Hat man Ihre Warnungen zu spät ernst genommen?
Dr. Seiters: Wir haben von der Bundesregierung und der EU viel Unterstützung erhalten, so dass wir in den letzten Jahren Hilfslieferungen in einer Größenordnung von rund 60 Millionen Euro in Syrien und den Nachbarländern einsetzen konnten. Was die Folgen der katastrophalen Situation im Nahen Osten betrifft, hätte die EU auf die Vorgänge in der Ägäis und im Mittelmeer viel früher reagieren müssen. Und auch heute fehlt es ja an einer überzeugenden europäischen Antwort. Was das Inland angeht, so haben wir in der Tat schon früh gesagt, dass zum Beispiel Zelte nicht winterfest sind. Auf angemessene Unterkünfte für die kalte Jahreszeit haben wir schon lange gedrängt, das kann durch Container geschehen oder in Kasernen. Klar muss sein: Zelte über den Winter – das geht nicht.
Frage: Das Grundgesetzt sicher jenen Asyl zu, die politisch oder religiös verfolgt werden oder in Lebensgefahr durch Krieg und Bürgerkrieg sind. Soll dieses Recht verändert werden? Wenn ja, in welcher Weise?
Dr. Seiters: Eine Änderung des Grundgesetzes ist nicht notwendig. Man muss sich konzentrieren, die Kontrollen an den Außengrenzen der EU zu verstärken, den Schengen-Grenzstaaten zu helfen und in unserem eigenen Land alle Voraussetzungen zu schaffen für eine strikte Trennung von Menschen aus sicheren Herkunftsländern und jenen, die verfolgt werden oder sich durch Krieg in Lebensgefahr befinden.
Frage: Über alle diese Themen gibt es Streit in der Bundesregierung.
Dr. Seiters: Es muss gelingen, eine Entspannung zu erreichen, was die Zuwanderung von Flüchtlingen angeht. Wir müssen zu einem geregelten und geordneten Verfahren übergehen. Wir müssen aber auch etwas anderes erreichen, und das muss klar sein: Auch bei denen, die einen Asylgrund haben und die bei uns bleiben, gilt das Prinzip von fördern und fordern. Unterstützung bei der Integration ist das, was wir leisten. Aber die Flüchtlinge müssen auf der anderen Seite Achtung vor dem Grundgesetz und unseren Gesetzen haben, ohne dass sie ihr kulturelles Erbe verleugnen müssen. Es kann nicht nur die Hilfe zur Integration geben, sondern auch die Bereitschaft zur Integration. Die müssen wir einfordern.